Titel
Stalins Bombe und die 'Hölle von Joachimsthal'. Uranbergbau und Zwangsarbeit in der Tschechoslowakei nach 1945


Autor(en)
Pustejovsky, Otfrid
Reihe
Geschichte 87
Erschienen
Münster 2009: LIT Verlag
Anzahl Seiten
864 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Karlsch, Berlin

Mit der voluminösen Studie von Otfrid Pustejovsky liegt erstmals eine überaus materialreiche Darstellung der Geschichte der Zwangsarbeit im tschechoslowakischen Uranbergbau von 1945 bis 1960 in deutscher Sprache vor. Das große Verdienst des Autors besteht darin, nicht nur die neuesten tschechischen Publikationen gründlich ausgewertet und übersetzt, sondern auch intensive Archivstudien in der Tschechischen Republik betrieben zu haben.

Sein Buch ist in sechs Teile gegliedert: Einführend wird die Geschichte des Erzbergbaus in Böhmen referiert, es folgen in den Teilen zwei und drei Darstellungen der Uranförderung im Joachimsthaler und Pribramer Gebiet. Im vierten und mit Abstand umfangreichsten Teil werden die Organisation der Lager sowie die Lebensbedingungen und Schicksale der Inhaftierten, Kriegsgefangenen, aber auch Zivilarbeiter analysiert. Es folgt im fünften Teil die Vorstellung von amtlichen Dokumenten, Zeitzeugenaussagen, Karten und Lageplänen sowie von Tabellen und Übersichten. Der abschließende sechste Teil besteht aus einem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Abbildungen und Fotos. Dies ist mehr als eine bloße Ergänzung. Die Fotos lassen den Betrachter das Grauen erahnen, das sich tagtäglich in den Zwangsarbeitslagern abspielte.

In den Uranbergbaubetrieben von Joachimsthal, Horni Slavkov und Pribram waren verschiedenste Gruppen von Arbeitskräften tätig: von 1945 bis 1949 überwiegend deutsche Kriegsgefangene, „Restributionshäftlinge“ und „Kollaborateure“, später vor allem politische Häftlinge, Kriminelle und auch Zivilarbeiter sowie sowjetische Spezialisten. Die Spuren der Zwangsarbeitslager sind heute kaum noch zu erkennen. Trotzdem hat es der Autor verstanden, anhand von Fotos, Skizzen ehemaliger Häftlinge und unzähligen Akten nicht nur deren präzise geographische Lage, sondern auch viele Details ihres Aufbaus und ihrer Funktionsweise zu rekonstruieren.

Die zentrale These klingt bereits im Buchtitel: „Hölle von Joachimsthal“ an. Pustejovsky führt überzeugende Belege dafür an, dass bei den Zwangsarbeitslagern rund um die tschechoslowakischen Uranlagerstätten die strukturellen Aufbaumuster kleinerer bis mittelgroßer deutscher Konzentrationslager wie auch der sowjetischen GULAGs zur Anwendung kamen. Dies betrifft sowohl ihr äußeres Erscheinungsbild mit Einzäunungen, Wachtürmen, Strafbunkern, Appellplätzen usw. als auch die inneren Strukturen, einschließlich der Lagerordnung. Auch in der Sprache gab es viele Analogien wie „apel plac“ (Appellplatz), „filcunk“ (Filzung), usw. Anstelle der zynischen deutschen Losung „Arbeit macht frei“ stand über dem Eingangstor der tschechoslowakischen Lager „Durch Arbeit zur Freiheit“.

Wie das System zur Verbringung von Häftlingen in den Uranbergbau funktionierte, wird genau rekonstruiert. Ihren Höhepunkt erreichten die Repressionen gegen politisch und sozial verdächtige Gruppen der Bevölkerung Anfang der 1950er-Jahre mit Kampagnen gegen die „dörflichen Reichlinge“ sowie verschiedenen Sonderaktionen. Pustejovsky zitiert zur Charakteristik der Zwangsarbeitslager zustimmend den in der tschechischen Forschung überwiegend verwendeten Begriff „kommunistisches KZ“. Er sieht eine doppelte Zweckbestimmung: die Lager dienten als Reservoir für billige menschliche Arbeitskräfte und als Repressionsinstrument gegen alle wirklichen sowie vermeintlichen „Staats- und Klassenfeinde“.

Pustejovsky stellt die Zwangsarbeitslager des Uranbergbaus in eine Reihe mit dem GULAG, dem KZ Theresienstadt, dem Massaker von Aussig und den Vernichtungslagern Birkenau und Treblinka (S. 8). Das kann man so nicht stehen lassen, denn hier wird (ungewollt) der Eindruck erweckt, als ob in den Uranbergbaubetrieben eine systematische Vernichtung von Menschen stattfand. Doch waren sie wirklich Lager, aus denen ein Teil der Häftlinge nicht zurückkehren sollte, ihre Tötung durch harte Arbeit, unzureichende Verpflegung und mangelnden Schutz vor Staub und Strahlung bewusst initiiert wurde (S. 349, 387)? Der Autor folgt dieser These, ohne dafür Belege bieten zu können. Einzig aus der Selbstbezeichnung von Häftlingen als „muklove“ oder in der Einzahl „mukl“, was laut Pustejovsky „ein zur Liquidierung vorausbestimmter Mann“ bedeutete, eine bewusste und systematische Vernichtungsabsicht herzuleiten, erscheint dem Rezensenten problematisch. Zudem wird der Begriff „mukl“ durchaus nicht einheitlich verwendet.

Auch vermag die These des Autors nicht zu überzeugen, dass die meisten Arbeiter in den Uranbergwerken an Verstrahlung gestorben seien (S. 442). Eine solche Behauptung zu prüfen ist sehr schwierig, weil es keine verlässlichen Sterbestatistiken von der Belegschaft der Uranbergbaubetriebe gibt.

Von den Strahlenbelastungen einmal ganz abgesehen, bietet sich ein Vergleich mit den sowjetischen Speziallagern in der SBZ an.1 Von rund 123.000 Inhaftierten kamen fast 43.000 in ihnen um. Jeder dritte Inhaftierte hat diese Lager nicht lebend verlassen. Intendiert war dies nicht. Für die sowjetischen Speziallager in der SBZ wurde keine Weisung der politischen Führung gefunden, die eine gezielte Vernichtungsabsicht belegt. Die Häftlinge verhungerten zu Tausenden, weil die Lager bei den Verteilungskämpfen um Nahrung an hinterster Stelle rangierten. Ihr Hungertod war auf die strukturelle Grausamkeit des Lagerregimes zurückzuführen.

Bisher ist nur ein einziger konkreter Plan bekannt, die Joachimsthaler Uranminen für eine Vernichtung durch Arbeit zu nutzen. Dieser wurde 1942 vom sächsischen Landesgewerbearzt Dr. Arthur Brandt entworfen. Er wollte die Gesundheit der deutschen Bergleute schonen und stattdessen ausländische Zwangsarbeiter und Strafgefangene in den Minen des Uranbergbaus einsetzen. Seine Begründung lautete: „Es ist nicht zu verantworten, dass wertvolle Volksgenossen eine Arbeit leisten müssen, die bei längerer Verrichtung mit einer gewissen Sicherheit zum frühzeitigen Tod durch Lungenkrebs führt. Wenn der Staat die Gewinnung von Radium im Interesse des deutschen Volkes für notwendig hält, dann sind hierfür grundsätzlich Kräfte einzusetzen, die bei vorzeitigem Ableben für das deutsche Volk keinen Verlust bedeuten.“2 Dr. Brandt versandte seinen Vorschlag zur „vorbeugenden Arbeiterauslese“ an ca. 40 staatliche Stellen, drang damit jedoch nicht durch.3

Pustejovsky wiederholt es mehrfach: Der Bau der ersten sowjetischen Atombombe sei nur durch das aus der Tschechoslowakischen Republik stammende Uranerz möglich gewesen (S. 69, 116, 272). Zweifellos war tschechoslowakisches Uranerz sehr wichtig für die sowjetische Atomindustrie. Falsch ist es jedoch, den ersten Uranlieferungen aus Westböhmen einen singulären Stellenwert zuzuweisen. Entscheidend dafür, dass Ende 1946 der erste sowjetische Versuchsreaktor in Betrieb genommen werden konnte, war die Erbeutung von ca. 300 t Uranverbindungen sowie mehrerer Tonnen Uranmetall kurz nach Kriegsende in Deutschland.4 In der Tschechoslowakei wurde von 1945 bis Ende 1948 rund 170 t Uranerz gefördert und in die UdSSR exportiert (S. 623ff.). Die Produktion der Wismut AG sowie ihrer Vorläufer belief sich in dieser Zeit aber bereits auf ca. 487 t Uran. Schließlich ist auch zu beachten, dass die Gewinnung von Uranerzen in der Sowjetunion im besagten Zeitraum mit ca. 362 t deutlich über der tschechoslowakischen lag.5

Die tschechoslowakischen Uranerzlieferungen deckten zwischen 1945 und 1950 ca. 16 Prozent des sowjetischen Bedarfs. Das war ein erheblicher Beitrag, der aber nicht dazu verleiten sollte, die These zu vertreten, dass die Sowjetunion ohne diese Lieferungen keine Nuklearmacht geworden wäre.

Eine Tendenz, die volkswirtschaftlichen Belastungen durch den Uranbergbau, die ohne Zweifel immens waren, höher zu veranschlagen als diese tatsächlich waren, findet sich neben einigen tschechischen Autoren auch bei Pustejovsky. So werden ganz unsinnige Rechnungen zitiert, wonach die ČSSR innerhalb von 15 Jahren einen Betrag von 2,4 Milliarden Dollar täglich (!) für ihr Uranerz hätte erlösen können, wären „Weltmarktpreise“ gezahlt worden (S. 157). Der Autor kalkuliert mit einem Uranpreis von 8.000 Dollar je kg. Tatsächlich wurden in den USA Anfang der 1950er-Jahre jedoch nur 16 Dollar je kg gezahlt.6

Bis Mitte der 1960er-Jahre kann nicht von einem „Weltmarkt“ für Uran gesprochen werden. Die Supermächte hatten ab 1944/45 mit allen relevanten Uranproduzenten langfristige Verträge geschlossen und nutzten das Uranerz fast ausschließlich für militärische Zwecke. So hatten weder die belgische Union Miniere noch die tschechoslowakischen Uranbergbaubetriebe in der bipolaren Welt des Kalten Krieges die Möglichkeit, ihre Handelspartner frei zu wählen. Erst mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie und dem Beginn des Baus von Atomkraftwerken in zahlreichen Industrieländern änderte sich die Situation, und es entstand ein Weltmarkt für Uran.

Alle Kritikpunkte ändern nichts daran, dass mit dem Buch von Otfrid Pustejovsky nunmehr das Standardwerk über den Uranbergbau und die Zwangsarbeit in der Tschechoslowakei nach 1945 vorliegt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Ralf Possekel, Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland, in: Sergej Mironenko / Lutz Niethammer / Alexander von Plato (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 2, Berlin 1998, S. 15-110.
2 Zitiert nach: Gine Elsner / Karl-Heinz Karbe, Von Jachymov nach Haigerloch. Der Weg des Urans für die Bombe, Hamburg 1999, S. 64.
3 Vgl. Rainer Karlsch / Zbynek Zeman, Urangeheimnisse. Das Erzgebirge im Brennpunkt der Weltpolitik 1933-1960, Berlin 2002, S. 61ff.
4 Vgl. Schreiben der Stellv. Volkskommissare für Innere Angelegenheiten der UdSSR Avramij P. Zavenjagin und V. A. Machnev vom 18.6.1945 an Lavrentij P. Berija über die Entsendung deutscher Spezialisten in die UdSSR und den Abtransport von Ausrüstung und Material aus Deutschland, Dokument Nr. 363, in: Leo D. Rjabev (Hrsg.), Atomnij Projekt CCP (Das sowjetische Atomprojekt 1938–1945), Zweiter Halbband, Moskau 2002, S. 323f.
5 Vgl. W.I.Wetrow, Die Gründung der Uranindustrie in der UdSSR, in: Ministerium für Atomindustrie der Russischen Föderation (Hrsg.), Die Entwicklung der ersten sowjetischen Atombombe, Moskau 1995, S. 22 (deutsche Arbeitsübersetzung).
6 Vgl. Vgl. Raye C. Ringholz, Uranium Frenzy. Boom and Bust on the Colorado Plateau, New York 1989, S. 269.

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